Sonntag, 18. November 2012

Die Frage der Fragen

In meinem Post über die ersten Tage im Büro hatte ich Euch ein kleines Rätsel mit auf den Weg gegeben, das zugegebenermaßen nicht ganz einfach zu lösen war. Es galt herauszufinden, welche Fragestellung in Korea so wichtig ist, dass sie zu den ersten Themen gehört, die beim Kennenlernen angesprochen werden. Um des Rätsels Lösung verständlich zu erklären, muss man ein bisschen weiter zurückgehen in der Kulturgeschichte Koreas, bis ins 4. Jahrhundert nach Christus, als der Konfuzianismus Einzug hielt in Südkorea. Bis heute hat diese Gesellschaftslehre, die sowohl philosophische als auch religiöse Bestandteile aufweist, eine große Bedeutung und wesentlichen Einfluss auf das Handeln und Leben der Koreaner. Insbesondere die Auswirkungen zweier Grundsätze lassen sich immer wieder beobachten: der hohe Stellenwert von Bildung und die hierarchische Organisation der Gesellschaft.

Ich hatte in meinem Eintrag über Ganghwado geschrieben, dass unzählige Gruppen von Kindern auf einer der Festungen unterwegs waren. Gleiches lässt sich in den Palästen in Seoul oder in den Bergen und Wäldern, die historische Bedeutung haben, feststellen - selbst an Wochenenden wimmelt es hier nur so von Kindergruppen. Bildung ist wichtig, selbst und gerade für die Kleinsten. Das Lernen von Schreiben und Lesen vor der Einschulung, das Lernen neben der Schule in Abendkursen, die Bedeutung eines guten Abschlusses bei einer der renommierten Universitäten (fast alle Koreaner studieren, trotz horrender Studiengebühren) – es gibt unzählige Beispiele für die überragende Bedeutung von Bildung in der koreanischen Gesellschaft.

Das zweite Grundthema des Konfuzianismus, die hierarchische Organisation der Gesellschaft, ist der Schlüssel zu meiner Frage. Hierarchie ist ein allgegenwärtiger Bestandteil des täglichen Lebens hier, der sich sogar deutlich in der Sprache niederschlägt. Das Koreanische kennt drei grundsätzliche Formen der Ansprache: eine persönliche (Du), eine höfliche (Sie) und eine sehr höfliche (kein Äquivalent im Deutschen). Erst wenn man seinen Gegenüber richtig in der gesellschaftlichen Hierarchie eingeordnet hat, ist es möglich, bei der Ansprache die korrekte Form zu wählen und damit den entsprechenden Respekt zum Ausdruck zu bringen. Letzteres ist Höhergestellten gegenüber ebenso angebracht wie Gehorsam. Im Gegenzug schuldet der Ranghöhere rangniedrigeren Personen Schutz und Fürsorge.

Die Einordnung in die gesellschaftliche Hierarchie macht sich an mehreren Merkmalen fest, nämlich am Alter (je älter, desto höher in der Hierarchie), am Familienstatus (verheiratet wird höher angesehen als ledig), an der Anzahl der eigenen Kinder, insbesondere der Söhne (je mehr desto besser) und im Unternehmenskontext auch an der Jahre der Betriebszugehörigkeit. Die Frage nach dem Alter wird dementsprechend als eine der ersten überhaupt gestellt, wenn sich Menschen in Korea kennenlernen – das war also die angedachte Lösung des Rätsels. Aber auch die anderen Themen kommen schnell zur Sprache, so dass auch diese als Lösung richtig sind. Vielen Dank an alle, die mitgeknobelt haben - und herzlichen Glückwunsch an all jene, die trotz der schwierigen Frage auf die richtige Lösung gekommen sind! Die Karten sind in Vorbereitung und gehen die nächsten Tage in die Post.

Übrigens haben mich meine direkten Kollegen weder am ersten noch am zweiten Tag nach meinem Alter gefragt. Allerdings nicht, weil es sie nicht interessiert hätte, sondern weil sie vorab meinen Lebenslauf gelesen hatten, in dem natürlich mein Geburtsdatum vermerkt war.

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